Ein europäischer Historiker im Spannungsfeld von Krieg und Nachkriegszeit, Henri Pirenne (1914-1923). Zu einer Neulesung der «Geschichte Europas»
Der italienische Mediävist Cinzio Violante hat sein letztes größeres Werk dem Leben und Denken des belgischen Historikers Henri Pirenne gewidmet. Pirenne, im Ersten Weltkrieg in Deutschland interniert, wendet sich in dieser Zeit von der traditionellen nationalen Geschichtsschreibung ab und einer europäischen, sozialhistorischen Konzeption zu. Violante, selbst deutscher Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg, findet in ihm einen Spiegel, in welchem er sein eigenes Erleben erkennen und verstehen kann. Dabei will er weder eine Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der beiden Weltkriege und ihrer politischen und ideellen Hintergründe schreiben, noch beabsichtigt er, die Verflochtenheit der damaligen deutschen Geschichtsschreibung in völkische, nationale und machtpolitische Ideologien zum Thema zu machen, obwohl dies laufend eine wichtige Rolle spielt. Er verfaßt vielmehr ein sehr persönliches Dokument von großer Authentizität, in dem er sich mit seiner Stellung zur deutschen und europäischen Geschichtssschreibung auseinandersetzt.
Zum Problem wird Violante dabei die Kollision widersprüchlicher persönlicher Wahrnehmung bzw. Einschätzung Deutschlands. Zum einen erlebt er Deutschland als Militär- und Machtstaat - während seiner Gefangenschaft in Griechenland und als Internierter während des Krieges in Deutschland. Zum anderen findet er in Deutschland eine von ihm bewunderte wissenschaftliche und geistige Kultur, wie er sie als Student und junger Gelehrter kennengelernt hatte und die ihn zeitlebens fasziniert.
Das Medium, in dem die Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Gegenwarten, das äußere und innere Ringen Pirennes wie der deutschen Historiker, vor allem Violantes selbst, stattfinden, ist die Geschichte des Mittelalters: Sie ist der Ort unserer Herkunft, Spiegel unserer Wertvorstellungen und Emotionen sowie das Refugium, in dem Violante innere Ruhe findet.
G. Dilcher - Einleitung des Herausgebers
G. Cracco - Cinzio Violante: Die schwierige Identität eines europäischen Historikers
Das Ende der "großen Illusion".
Ein europäischer Historiker im Spannungsfeld von Krieg und Nachkriegszeit, Henri Pirenne (1914-1923)
Zu einer Neulesung der "Geschichte Europas"
Vorwort
Einleitung
I. Die Erfahrung des Krieges
1. Akademischer Stolz und politische Opposition im besetzten Gent
2. In den Gefangenenlagern: Neue menschliche Erfahrungen und geistige Anregungen
3. Neue Kontakte zur deutschen Gesellschaft: Das Exil in einer Universitätsstadt und in einem abgelegenen Dorf. Von der rigorosen Forschung zur kulturellen Revision und zur Synthese: Die Abfassung der "Geschichte Europas"
4. Die Erinnerungen an das Exil in den "Souvenirs de captivité": Die Entdeckung eines ungeahnten Deutschland
II. Die Professoren im Sturm
1. Die Hintergründe für die Vorbereitung der deutschen Historiker auf die Kriegsideologie
2. Der Ausbruch des "Intellektuellenkriegs"
3. Der "Geist von 1914"
4. Die fortschreitende Divergenz zwischen Extremisten und Gemäßigten
5. Divergenzen und gemeinsame Anschauungen der deutschen Professoren
III. Der Bruch in der akademischen Welt Europas zwischen Krieg und Nachkriegszeit - Die 'Revanche' der belgischen Historiker
1. Die geistige Einheit der Professorenschaft in der Krise
2. Intensivierung der internationalen akademischen Initiativen im Geist des Nachkriegsrevanchismus
3. Der Ausschluß der deutschen Wissenschaftler aus der Königlich Belgischen Akademie: Wilamowitz und Liszt
4. Der Ausschluß der deutschen Wissenschaftler aus der Königlich Belgischen Akademie: Lamprecht
5. Die Reaktion Pirennes
IV. Die Reden Pirennes in der Nachkriegszeit: Gewissenskrise und historiographische Revisionen
1. Vom romantischen Nationalismus zum Rassenimperialismus: Kritik einer kulturellen und politischen Entwicklung
2. Das mittelalterliche Reich: germanisch oder römisch? Revision einer historiographischen und politischen Operation
3. "... désapprendre de l'Allemagne"
V. Horizonterweiterung zwischen dramatischen Visionen und übernationaler Dynamik im Geschichtsdenken der Nachkriegszeit: Der Brüsseler Kongreß 1923
1. Von der Nationalgeschichte über den Vergleich zur Universalgeschichte
2. Völkerwanderungen und Invasionen, Kulturbegegnungen und Kulturkrisen, Wechsel historischer Zeiten
3. Horizonterweiterung und methodologische Erneuerung in der Wirtschaftsgeschichte: Von Pirenne zu Febvre und Bloch
4. Die Vorträge Blochs und Febvres
5. Ein beschwerlicher Weg zur Versöhnung und Kooperation mit den Historikern der ehemals feindlichen Länder
VI. Die "Geschichte Europas": Die "Réflections d'un solitaire" und Pirennes Schriften der Nachkriegszeit als Interpretationsschlüssel
1. Europa als historisches Thema
2. Grundlegende methodische Kriterien, die Pirennes Darstellung der "Geschichte Europas" bestimmen
3. Invasionen, dynastische Heiratspolitik, Umstände und Gleichzeitigkeiten: Das Problem des Zufalls in der "Geschichte Europas"
4. Die "Verspätung" Deutschlands in der Geschichte Europas
5. Die fortschreitende Entwicklung der Besonderheiten und der Integration der europäischen Nationen
VII. Der Leitfaden der "Geschichte Europas"
1. Von der Kontinuität des antiken Staates und seiner Auflösung bis zur Bildung der "Nationalstaaten"
2. Vielfalt der Leitlinien in der Geschichte Europas zwischen 1350 und 1550 bis hin zur modernen Staatsbildung
3. Allgemeine Merkmale der "Geschichte Europas"
Schlußbemerkungen
Nachwort
Personenregister